Die Deckenlage der alten Fabrikruine vor Sascha war weggebrochen. Nur das Summen der Bienen in der heißen Nachmittagssonne auf dem Gelände der S-Bahn drang von draußen durch die zerbrochenen Kastenfenster. Er stützte sich auf einen freistehenden Balken und überlegte, wie er auf den Vorsprung an der Fassade des Hauses gelangen könnte, um dort das Graffiti zu sprühen, dass er für Vanessa entworfen hatte. Sie würde es jeden Morgen auf dem Weg zur Schule in der S-Bahn lesen können und an ihn denken.
Aber zuerst musste er eine Etage tiefer. Die Decken waren etwas mehr als drei Meter hoch. Wenn er sich am Balken hängen ließ, würde er die Fallhöhe mehr als halbieren.
Gerade als er seinen Rucksack abgestellt hatte, rief jemand draußen seinen Namen. „Sascha!“ Er erstarrte. Viktor, schoss es ihm durch den Kopf. Sascha hörte die Schritte auf dem Dach. Elender Wichser, dachte er. Ist der mir gefolgt? Viktor war ein stämmiger, blonder Hüne mit Sommersprossen, der sicherlich Mädchenschwarmqualitäten besaß, denen aber keine verfiel, weil sein durchdringender böser Blick alles und jeden abschreckte. Was ihn sicherlich noch wütender machte. Aber was noch wichtiger war: Viktor hasste ihn. Seit Sascha neu auf die Schule gekommen war, ließ Viktor keine Möglichkeit aus, ihn zu piesacken, aber Sascha hatte es ihm auf seine Art heimgezahlt.Beim nächsten Knarren vom Dach sprang er in die Schatten eines Geröllbergs und drückte sich an die kalte Wand. Putz rieselte in den Kragen seines T-Shirts. Er hatte hier keine Deckung.
Laub raschelte vor dem Fenster. Die Ranken des wilden Weins bewegten sich hin und her. Viktor kam die Fassade heruntergeklettert.
Sascha fluchte innerlich. Er musste verschwinden. Fuck! Viktor würde gleich durch das Fenster kommen. Jetzt oder nie!
Sascha löste sich in dem Moment von der Wand, als Viktor durch das Fenster gehangelt kam. „Alter, halt! Du Arschloch, das hier ist, mein Gebiet!“, brüllte er ihn mit hochrotem Kopf an.
Sascha hielt nicht an. Er machte zwei große Schritte, bis er am Balken war, und ließ sich durch das Loch fallen.
Mit einem lauten Wumms krachte Sascha auf den spröden Dielenboden, rollte sich ab und landete eine Etage tiefer. Sein Knöchel schmerzte leicht, als er aufstand. Heftiges Flügelschlagen folgte, dann hörte er Viktor von oben rufen. „Was glaubst du, was du hier machst, du Idiot?“ Er hielt Saschas Rucksack und durchsuchte ihn über dem Loch im Boden. Als Viktor die Sprühflaschen untersuchte, wetterte er los. „Ich wusste es! Du bist der Idiot, der meine Tags übermalt! Das wirst du büßen, du Sack!“ Er warf die Sprühflasche nach Sascha und verfehlte ihn nur knapp.
„Nichts hab ich gemacht!“, rief Sascha zurück. Er wäre nicht so blöd zuzugeben, dass er Viktors Schmierereien wirklich übermalt hatte. Nicht jetzt, wo er sich den Knöchel verletzt hatte. „Gib mir meinen Rucksack!“
„Da hast du deinen Scheiß!“ Viktor schüttete den Inhalt des Rucksachs aus. Hefter, Schreibblock und der Inhalt seines Schlampermäppchens prasselten um Sascha herum auf den Boden.
„Arschloch!“ Doch bevor er die Sachen aufsammeln konnte, ließ sich Viktor durch das Loch nach unten. Beinahe wäre er auf Sascha gelandet, doch dieser konnte sich gerade so zur Seite retten.
„Jetzt bist du dran!“
Aber bevor er ihn greifen konnte, war Sascha schon losgerannt. Er ignorierte den Schmerz in seinem Bein und stürzte durch den Raum zur nächsten Treppe nach unten. Dort kam er in einen düsteren Flur.
Türen und Fenster waren zugenagelt und nur vereinzelte Lichtstrahlen drangen durch die Spalten zwischen den Brettern. Verdammt! Es ging nur geradeaus und Viktor war ihm dicht auf den Fersen. Schon kam er durch die Tür gebrettert.
Verzweifelt suchte Sacha humpelnd einen Ausgang. Am Ende des Gangs stürzte er um eine Ecke und vor ihm tauchte ein Loch in der Wand auf. Es war mit grünen Ranken zugewachsen. Rote Backsteine lagen davor in einem Haufen auf dem Boden. Ohne sehen zu können, wohin das Loch führte, sprang er hindurch.
Auf der anderen Seite stieß er schmerzhaft gegen einen Holzturm, der mit lautem Krachen umfiel und zwei weitere Türme mitriss. Die aufgetürmten Kisten, aus denen jeder Turm aufgestapelt war, zersprangen mir lautem Getöse und verteilten ihren Inhalt auf der Wildwiese. Plötzlich war die Luft erfüllt von wütendem Brummen zehntausender Bienen. Sacha roch Wachs und rutschte benommen auf Händen und Knien durch klebrigen Honig.
Als Viktor hinter ihm auftauchte, lief dieser direkt in den Schwarm und fing an zu schreien, als er gestochen wurde. Er sprang wild gestikulierend herum und rannte dann so schnell er konnte weg.
Die Bienen hatten es aber auch auf Sascha abgesehen. Sie krabbelten auf seinem Gesicht herum und stachen in sein Ohr. Er wand sich auf dem Boden und hielt seinen Mund krampfhaft geschlossen. Dann roch er Qualm!
„Was ist denn in dich gefahren? Bist du noch zu retten?“ Ein Mann in Imkerhut und rauchendem Gerät in einer Hand stand vor ihm. Durch das schwarze Netz vor seinem Gesicht war er nicht zu erkennen, aber seiner Stimme klang sehr wütend.
Sascha konnte nicht antworten, er traute sich nicht, seinen Mund zu öffnen. Das Brummen war überall um ihn herum und er wurde panisch. Sein Knöchel schmerzte jetzt sehr stark, aber er musste hier weg.
Als hätte der Mann geahnt, dass Sascha wegkrabbeln wollte, packte er ihn am Arm und zog ihn hoch in den Stand. „Mein Knöchel!“, jaulte Sascha auf.
„Jetzt bleib ruhig. Ich werde dir helfen.“ Der Mann zog Sascha einige Schritte mit sich und begann, ihn mit dem Rauchapparat abzuräuchern. Die Bienen, die auf ihm krabbelten, fegte er mithilfe eines schmalen Besens von ihm herunter.
„Die wollen mich umbringen!“, brachte Sascha mit dünner Stimme hervor. Er fühlte, wie sein Ohr puckerte.
„Natürlich wollen sie das. Du hast ihr Zuhause zerstört. Kannst du ihnen das verdenken?“ Der Mann schien sich ebenfalls zu beruhigen.
Sascha schüttelte den Kopf. Erleichtert stellte er fest, dass Viktor nirgends zu sehen war. „Nein, aber irgendwie haben sie mich auch gerettet.“
Das ließ den Mann stutzen und er zog sich den Imkerhut vom Kopf. Darunter kam ein Mann mit weißem Bart und schütterem Haar zum Vorschein. Er wirkte alt wie Saschas Opa, aber sein Blick war klar wie Eis. „Dann bist du ihnen wohl was schuldig, Junge.“ Mit dem Besen zeigte er zurück auf die Wiese, wo die drei verzweifelten Schwärme, um die Überreste ihres Zuhauses kreisten.
„Du wirst mir helfen, das wieder in Ordnung zu bringen, verstanden!“
Zögerlich begann Sascha zu nicken. „Sagen Sie mir, was ich tun soll.“