Vorsichtig kratzte Sascha die dünne Wachsschicht, die eine der großen Brutkammern auf dem Drohnenrähmchen verschloss, mit der Spitze seines Stockmeißels beiseite. Mit dem Öffnen der Kammer hatte Sascha ihr Todesurteil vollstreckt, aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Sein Imkervater Dieter von Orchard stand bei ihm und wartete auf seine Einschätzung. Durch den Schleier seines Imkerhutes konnte Sascha die Larve gut erkennen. Sie war dick, weiß und schimmerte feucht im Tageslicht, dem sie nun ausgesetzt war. Eine Hundertschaft von Bienen krabbelte auf den Waben umher und schwirrten in der Luft um sie herum. »Die Drohnenlarve sieht gesund aus. Ich seh‘ nicht mal eine Varroa.«
»Gut, dann versuch jetzt eine Arbeiterinnenzelle.« Von Orchard deutete mit seinem Finger auf eine der mittleren Waben im Brutkasten vor ihnen.
Sascha hängte den Drohnenrahmen zurück in die Beute und gab zwei Stöße seines Smokers über der Stelle ab, die ihm von Orchard gewiesen hatte. Die darauf befindlichen Bienen wichen zurück in die Wabengassen, als der Qualm des Smokers über sie hinwegzog.
Sie waren heute leider nicht auf der Suche nach Varroamilben, sondern überprüften ihren Bienenstand auf amerikanische Faulbrut. Der Amtstierarzt hatte eine Sperrzone im Bezirk ausgerufen, als Pilzsporen der amerikanischen Faulbrut bei einem anderen Imker in den Kontrollproben gefunden wurde. Der Amtstierarzt war als schwierig verschrien und viele der Imker hatten den Eindruck, dass er, angehalten durch die Verfahrensweise bei der Vogelgrippe dazu neigte, auf eine Sanierung der Bienenstände zu verzichten. Stattdessen ordnete er das Abschwefeln aller auf dem Stand befindlicher Bienenvölker an, was diese restlos abtötete.
Sascha überlegte, was es für ihn bedeuten würde, wenn er gezwungen wäre, seine Bienen zu töten. Er dachte an die Aufregung, als er mithilfe seines Imkervaters von Orchard einen Ableger aus dessen sanftmütigsten Wirtschaftsvolk gebildet hatte und eine Woche später die Königinnenzellen darauf entdeckte. Der schönste Moment war, als sie weitere drei Wochen später die ersten Stifte der jungen Königin in den Waben gefunden hatten. Stifte nannte man die Eier, die die Königin sorgfältig in je eine Wabe platzierte. Das hieß, dass der Ableger im Begriff war, zu einem Volk heranzuwachsen. Wenn sie dann noch den Winter überstanden, würde Sascha nächstes Jahr Honig, Propolis und Wachs von seinem Volk ernten können. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Vorfreude. Gleichzeitig wurde ihm klar, wie schrecklich es wäre, sein gesundes Volk aufgrund einer Anordnung abtöten zu müssen. Das Schlimmste für ihn war, dass es ihm nichts brachte, wenn die Proben, die der Amtstierarzt nächste Woche entnehmen würde, keine Sporenbelastung in seinem Volk ausweisen würde, sollten die Proben der anderen Völker positive Ergebnisse bringen. Der gesamte Bienenstand wurde untersucht und war in Gefahr. »Warum ist unser Bienenstand gemeldet? Wäre es nicht besser, es nicht zu melden, dann können sie einen nicht zwingen, die Bienen zu töten, wenn sie nichts haben.«
Von Orchard schaute missbilligend zu Sascha. »Das ist sicher nicht der richtige Rückschluss, Sascha. Wenn hier in einem dicht bevölkerten Raum wie Berlin, wo viele Hobbyimker ein bis drei Völker halten, die Faulbrut ausbricht, kann das sehr schnell um sich greifen.«
»Aber den Honig können wir doch noch essen!« Er brauchte den Honig, um Vanessa zu beeindrucken.
»Das ist kein Grund, die Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Faulbrut schadet vielleicht nicht dem Menschen, aber sie ist für Bienen hochgradig ansteckend und kann ein Volk in kurzer Zeit töten. Die Faulbrut-Sporen befallen die Brut der Bienen und zersetzen sie vollständig. Zurück bleibt eine schleimige Masse, die eintrocknet und Milliarden weitere Sporen enthält, die nur darauf warten, von den Putzbienen an die anderen Larven verfüttert zu werden. Der Tierarzt wird nächste Woche eine Futterkranzprobe nehmen und dann sehen wir weiter. Bis jetzt sehen alle Völker, die wir uns angeschaut haben, gut aus.«
»Aber wenn sie im Labor Sporen finden?«
»Haben wir die Chance, zu sanieren. Dann lernst du, wie man einen Kunstschwarm bildet. Schlimm wäre es, wenn wir befallende Waben finden würden. Dann hätten wir keine Wahl mehr.«
Sascha zählte die Beuten, so wurden die Bienenkästen genannt, die auf der Wiese standen. Es waren acht Stück. Letztes Jahr war er genau hier auf der Flucht vor Viktor, dem Schläger, in drei der Bienentürme gerannt und hatte dutzende Stiche erlitten. Von Orchard hatte ihn verpflichtet, seinen Schaden wieder gut zu machen, und Sascha hatte sich gefügt. Seitdem hielten die Bienen Viktor auf magische Weise in Schach. Seit dem Vorfall hatte er Sascha nicht mehr drangsaliert und sogar Vanessa hatte sich für die Geschichte und davon war Sascha überzeugt, ihn interessiert.
Sie hatten bereits fünf Völker gesichtet und keine Anzeichen für einen Befall gefunden. Vielleicht machte er sich umsonst Sorgen. Auch die Arbeiterinnenbrut seines Ablegers gab keine Anzeichen für einen Faulbrutbefall und sie schlossen die sechste Beute.
Von Orchard öffnete die siebte Beute und zog das Brutnest auseinander. Er gab Sascha einen Wink mit dem Stockmeißel »Schau dir das letzte Volk alleine an, du weißt ja jetzt, worauf du achten musst.«
Schon beim Öffnen bemerkte Sascha, wie wenig Bienen sich auf den Rähmchen befanden. Von Orchard war mit dem anderen Volk beschäftigt. Sascha begann, die mit Propolis verkitteten Rähmchen von der Beutenwand zu lösen. Bereits beim ersten Brutrahmen konnte er es riechen. Das roch nicht nach Wachs und Honig, sondern nach süßer Verwesung. Sascha wurde heiß unter seiner Schutzkleidung. Er sah geöffnete, leere Zellen. Die Putzerbienen auf dem Rahmen trieb er mit einem Rauchstoß seines Smokers zur Seite und öffnete eine der Zellen wie zuvor. Aber statt der prallen weißen Made klebte eine gelbliche Masse in der Zelle. Verdammt, das darf nicht wahr sein! Sascha öffnete eine weitere Zelle und fand wieder eine gesunde Made. Er schaute zu von Orchard, der gerade selbst eine der Waben in seinem Kontrollvolk öffnete. »Wie sieht es aus?«, fragte er, bemüht, dass seine Stimme nichts von seiner Aufregung verriet.
»Gut, gut«, murmelte von Orchard, konzentriert auf seine Aufgabe.
Jede Beute war ein Zuhause für ein Volk mit ungefähr 40.000 Bienen. Insgesamt 320.000 Leben standen hier auf dem Spiel. Sascha schluckte. Sein Ableger war gesund, das hatten sie gerade gesehen. Er wollte kein gesundes Volk in Gefahr bringen. Er kratzte die verklebte Faulbrut großzügig mit dem Meißel aus der Wabe und formte einen Wachsklumpen daraus, den er in seinem Handschuhschaft verbarg. Mit steifen Fingern hängte er den Brutrahmen zurück in die Beute. Dann setzte er den Deckel wieder auf. »Hier ist alles klar.« Seine Zunge fühlte sich ganz faulig an, als er von Orchard anlog.
Dieser hatte seine Kontrolle ebenfalls beendet und schaute ihn prüfend an. »In Ordnung, dann lass uns zusammenpacken.«
Sascha griff Smoker und Meißel. Wenn der Amtstierarzt kam und die Proben positiv auffielen, durfte sein Ableger nicht mehr auf diesem Stand stehen. Sascha musste heute nach Einbruch der Dunkelheit, wenn alle Bienen in ihren Beuten waren, wieder hierherkommen und seinen Ableger in Sicherheit bringen. Er würde seine Bienen retten.