Thomas prüfte die Zeit auf seiner Armbanduhr. Er hatte es doch fast pünktlich durch den Verkehr geschafft, trotzdem hatte ihm seine Verspätung einen wenig herzlichen Empfang beschert. Was er verstand, immerhin litt ein Angehöriger und rang mit dem Tod. Er folgte pflichtbewusst der rigiden dunkelhäutigen Dame und ihrem schweigsamen Begleiter durch die Flure der Villa. Die Frau hatte sich als Meeka Mumbi vorgestellt. Ihr Begleiter hatte ihm nur zugenickt, dennoch hatte er Thomas gesamte Aufmerksamkeit in Besitz genommen. Der Mann war ein Hüne. Bestimmt zwei Meter groß, breite Schultern und muskulöse Arme. Thomas drückte seinen Rücken durch. Er war gut einen Kopf kleiner als der Mann. Hätte er Zeit, würde er wieder ins Fitness-Studio gehen, obwohl er nicht vom Typ Hantelschwinger war, sondern vielmehr die Statur eines Läufers hatte. Aber dank seiner Kollegin Jennifer konnte er Sport oder sonstiges vorerst streichen. Sie war seit drei Tagen nicht zum Dienst erschienen. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie von den ganzen Drogen geschwärmt, die sie alle in ihren Koffern herumtrugen, dass sie legale Dealer wären. Er war sich sicher, Jennifer hatte Scheiße gebaut.
Wenn sie wieder auftauchte, würde er sich ernsthaft mit ihr unterhalten. Sie waren eh schon chronisch unterbelegt und hatten kaum Zeit für ihre Patienten. Wie sollte er dem Vorsatz nachkommen, sich umfassend jedem einzelnen zu widmen? Sollte er das vielleicht mal der Chefin stecken? Er zweifelte. Wahrscheinlich feuerten sie Jennifer dann und er müsste noch ein gutes Wort für sie einlegen, nur um hier nicht ganz in Arbeit zu ersticken.
Die letzten zwei Nächte hatten ihm das wieder deutlich gezeigt. Er hatte sie bei Notfällen verbracht und kaum geschlafen. Das sah man ihm sicher auch an. Vielleicht hatten Frau Mumbi und ihr Begleiter Vorbehalte, weil er ihnen zu jung erschien? Mit Mitte Zwanzig hat man es manchmal schwer, ernst genommen zu werden. Er wusste, was er tat, aber woher sollten sie das wissen? Sterbebegleitung war eine Sache des Vertrauens. Thomas war Krankenpfleger und hatte sich letztes Jahr auf Palliativmedizin spezialisiert. Er war da, wenn die Ärzte keine Antworten mehr hatten und half den Menschen auf ihrem letzten Weg, nahm ihnen die Schmerzen und versuchte, Mut und Trost zu spenden, wo es keinen gab.
Vielleicht lag es aber auch nicht an ihm. Unbehagen kroch über seinen Nacken, als er sich an die Hass-Schmierereien, Totenköpfe und „Nigger-raus“-Parolen, die auf die Toreinfahrt der Villa gesprüht waren, erinnerte. Um den Schauer abzuschütteln, der über seinen Nacken bis in seine Haare gekrochen war, fuhr er mit der Hand durch seinen ungekämmten Schopf. Als er darin hängenblieb, kam er zu dem Schluss, dass sich ihre Zurückhaltung ganz klar auf sein verpenntes Aussehen bezog.
Als sie vor einer doppelseitigen Zimmertür innehielten, überlegte Thomas, ob er es merkwürdig finden sollte, dass ihn bisher niemand nach Jennifer gefragt hatte. Immerhin hatte sie diese Familie bereits seit Wochen betreut, aber das menschliche Verhalten beim Thema Tod war nicht genormt. Vielleicht nahm er sich auch zu wichtig.
Meeka Mumbi öffnete die Tür.