Auf der Genre Recherche für mein eigenes Buch hin, bin ich auf Wächter der Nacht von Sergej Lukianenko gestoßen. Er gilt als der populärste russische Fantasy und Science-Fiction-Autor der Gegenwart.
Vorab noch folgendes: Seit ich mich mit dem Schreiben beschäftige, kann ich Bücher nicht mehr unvoreingenommen lesen. Ich fange sofort an, die Struktur und den Plot zu untersuchen. Auch hier ist es mir nicht anders ergangen. Dabei beobachte ich mich selbst. Ich achte automatisch auf folgende Punkte.
Dabei schaue ich gerne, wie es der Autor gemacht hat, um es im Zweifelsfall selbst auszuprobieren.
Geisterwesen, Hexen, Vampire und Tiermenschen, die sogenannten Anderen, existieren. Sie leben unerkannt mitten unter uns. Sie unterscheiden sich in helle Andere und dunkle Andere, Gut und Böse. Es herrscht kein Krieg zwischen ihnen, denn das Gleichgewicht wird durch einen Vertrag geregelt, den die Seiten vor langer Zeit geschlossen haben. Der Vertrag wird durch die zwei Organisationen, den Wächtern der Nacht und den Wächtern des Tages durchgesetzt. Sie haben Büros über die ganze Welt verteilt.
Wir folgen dem Ich-Erzähler Anton, einem Informatiker und Wächter der Nacht durch das heutige Moskau. Anton ist nur ein mittelmäßiger Magier, der eigentlich im Innendienst arbeitet, aber er wird zum Dreh und Angelpunkt der Geschichte, als die Kräfte aus dem Gleichgewicht zu kippen drohen.
Langsam und ächzend kroch die Rolltreppe nach oben. Kein Wunder, so alt wie die Station war. Dafür fegte der Wind durch die ganze Betonröhre, zerzauste ihm das Haar, zerrte an der Kapuze, schlängelte sich unter den Schal und drückte Jegor nach unten.
Der Wind wollte nicht, dass er hinauf fuhr.
Der Wind bat ihn umzukehren.
Wächter der Nacht von Sergej Lukianenko
Seite 9
Es beginnt mit einem Prolog. Ich weiß, es gibt Menschen, die überblättern Prologe, aber ich gehöre nicht dazu. Ganz im Gegenteil. Ich lese sie sehr gerne!
Der Prolog zeigt eine Perspektive auf eine Szene, die sonst nicht im Buch vorkommt. Die Art, wie Vampire ihre Opfer locken, ist erfrischend und spannend. Er endet mit einem Cliffhanger, bei dem ich wissen wollte, wie es weitergeht. Außerdem hat mir das Setting des kalten, düsteren Moskaus gut gefallen.
Durch die Personifizierung des Windes setzt Lukianenko gleich mit den ersten Sätzen die Atmosphäre.
Nach dem Prolog wechselt die Anfangsszene zum Ich-Erzähler. Wir lernen Anton kennen. Das erste was mir aufgefallen ist, Antons Äußeres wird nicht beschrieben. Das hat auf mich die Wirkung, dass seine Gesichtszüge vor meinem geistigen Auge umherwabern. Er ist weder attraktiv, noch durchschnittlich, oder irgendwas. Ich kann mich nicht mal auf Haarfarbe oder Alter festlegen. Im Verlauf des Buches, könnte ja ein Hinweis erscheinen, der meine Illusion zunichtemacht, daher lege ich mich gar nicht erst fest. Das macht es mir schwer, ihn zu mögen. Ich bleibe auf Abstand.
Während ich noch mit dem Aussehen des Protagonisten hadere, fängt dieser an Blut zu trinken und findet sich, nach einem kurzen Intermezzo mit seinem unzufriedenen Chef, in der Moskauer U-Bahn wieder, auf der Suche nach potentiellen Opfern. Soweit so gut. Als Anton die Auswüchse des Bösen über den Köpfen einiger U-Bahn Passagiere bemerkt, will ich weiterlesen. Sein fehlendes Aussehen ist vergessen.
Um nicht zu viel vom Plot zu verraten, springe ich jetzt zum Love Interest. Da Liebe auch in Zeiten von Gut gegen Böse, schwierig zu sein scheint, kann sich Anton nicht zu ihr bekennen, so dass ich im dritten Teil des Buches überrascht war, als sich Anton und Swetlana wie beiläufig küssen. Da habe ich wohl irgendwas nicht mitbekommen auf dem Weg dorthin. Die Liebe erschien mir zu herbeigeredet. Es wurde viel darüber diskutiert und Antons Herzschmerz ging mir nicht wirklich nahe. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er welchen hat. Vielleicht liegt das auch an der fehlenden äußeren Beschreibung seiner Person, aber sicher auch an seiner Sicht auf die Dinge und wie er alles wegdiskutiert. Ich gehe davon aus, dass das Absicht war. Siehe auch mein Eindruck vom Thema des Buches weiter unten.
Was mir wiederum gut gefällt ist, wie die Konflikte zu den Kompromissen, die das Gute – wegen des Vertrages oder um dem größeren Guten zu dienen – eingehen muss, zu Gewissenskonflikten in den Figuren führen. Die überraschenden Wendungen bestehen daher für mich eher in der geänderten Auslegung der Geschehnisse. Um das zu erreichen, nutzt der Autor viel die Innensicht Antons, sowie Diskussionen/Dialoge mit seinen Kollegen. Anton wirkt dadurch eher neutral, als gut, was ihn in meinen Augen auch sehr leidenschaftslos wirken lässt.
Es war still. Irgendwie beunruhigend still, selbst für einen Moskauer Schlafbezirk zu so später Stunde. Als ob sich alle in den Häusern verschanzt, das Licht gelöscht, sich die Decke über den Kopf gezogen hätten und schwiegen. Schwiegen – nicht etwa schliefen.
Wächter der Nacht von Sergej Lukianenko
Seite 143
Obwohl es der Ich-Erzähler ist (Leser ist also sehr nah dran) und er sich auf eine sehr gefährliche Mission begibt und dass er stirbt, schon feststeht, hatte ich nicht den Eindruck, er hätte einer besonderen Panik. Er fügt sich in sein Schicksal. Er bleibt dem Guten verbunden und neutral, weil er das Richtige tut, bzw. tun muss. Ich befürchte, ich verstehe ihn. Gut sein, hat was Hoffnungsloses für das eigene Schicksal.
Ich war noch nie in Moskau und kenne es nur aus Filmen und mit Moskau als Schauplatz, habe ich die Wahrzeichen, zum Beispiel die Zwiebeltürme der Kathedrale des seligen Basilius am Roten Platz oder den Kreml verbunden, aber diese Plätze bekommt der Leser nicht präsentiert. Stattdessen jagt man mit Anton durch sozialistische Neubauten und fährt mit der U-Bahn herum. Auch der Moskauer Fernsehturm mit Restaurant wird zum Schauplatz. Als Berliner muss ich gestehen, nur aufgrund der russischen Metronamen wurde ich immer wieder daran erinnert, nicht durch Berlin, sondern durch Moskau zu laufen, dafür war es aber sehr bildlich für mich. ?
Hier ein Beispiel für die neutrale Sicht des Protagonisten:
Sie ließen mich in völliger Stille gehen, ohne jedes überflüssige Wort, ohne mir noch einmal auf die Schulter zu klopfen, ohne mir einen Rat mit auf dem Weg zu geben. Denn im Grunde tat ich nichts Besonderes. Ich ging einfach sterben.
Wächter der Nacht von Sergej Lukianenko
Seite 143
Lukianenko spielt mit den schwimmenden Grenzen zwischen Gut und Böse. Das große Thema des Buches scheint mir moralisches Verhalten in Reflexion zum individuellen Schicksal zu sein. Unser Protagonist ist dem Guten verschrieben, handelt aber häufig nach seiner eigenen Auslegung. Er deckt die zwielichtigen Vorgehensweisen seiner Vorgesetzten auf, gleichzeitig relativiert er ihr Verhalten und wird dadurch immer neutraler. Eigentlich ist nicht klar, was Gut sein bedeutet. Obwohl in jedem Teil das Böse abgewendet werden kann, habe ich den fahlen Nachgeschmack, dass Gut anders sein sollte. Es ist eine ernüchternde Lektüre. Weder das wirklich Gute, noch das absolut Böse existiert. Alles ist Auslegungssache.
Auch wenn es sich vielleicht nicht so anhört, aber ich habe das Buch wirklich gerne gelesen. Die Art, wie sich Magie in dieser Welt manifestiert, ist sehr gelungen. Sie ist versteckt und nur dem Wissenden Auge ersichtlich. Normal Menschen spüren sie, können sie aber nicht sehen. Auch das Thema die verwaschenen Grenzen zwischen Gut und Böse, sagt mir sehr zu. Gerade der Anfang ist spannend und die 525 Seiten lesen sich sehr schnell.
Hinsichtlich meiner Genre Recherche, werde ich mir das Buch als gutes Beispiel im Hinterkopf behalten.
Und was hat Dich die Woche beschäftigt?
Bis bald!
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